Letzter Tag

Von Tel-Aviv aus, einer Stadt, die auch an der Côte d'Azur oder der Costa Brava liegen könnte, fahren wir noch einmal Richtung Osten am letzten Tag. Sehr weit nach Osten; sehr weit nach unten. Zwischen dem höchsten Punkt dieses flächenmäßig überschaubaren Landes und dem hier verorteten tiefsten Punkt der Erde liegen 1,6 vertikale Kilometer. Ein Besuch auf der römisch/jüdischen Burgfestung Masada und ein Bad im Toten Meer ist das Programm für heute. Auf der Fahrt zeigt sich nicht nur die Höhendifferenz, sondern auch, welch unvorstellbaren Unterschiede zwischen den Lebensentwürfen und -schicksalen in diesem Land existieren: In Tel-Aviv haben wir uns noch über Werbung für Stundenhotels im von Wolkenkratzern, Bankgebäuden und Botschaftseinrichtungen geprägten Stadtbild amüsiert, und kurz hinter Jerusalem sehen wir Beduinensiedlungen mit Nomadenzelten und einer Gesellschaft, die noch genauso lebt wie vor 2.000 Jahren. Dieses Land ist wie kein anderes.

Das 300x600 Meter große Masada-Plateau wurde nach dreijähriger Belagerung römischer Truppen den jüdischen Widerständlern entrissen. Wie während dieser Zeit die Wasserversorgung funktionierte, kann ich mir auch nach intensivster Recherche nicht erklären; die Festung ist von Wüste umgeben und das Wasserreservoir einer Grotte im Berg reichte doch kaum ganzjährig für alle 960 Bewohner. Aber erst ein Brand führte zur Kapitulation der Bewohner, die jedoch den Freitod der römischen Sklaverei vorzogen. Greise, Männer, Frauen, Kinder töteten sich lieber selbst, als Menschen ohne Würde zu sein. Judäa, du sorgenvolles! Israel, dein Schicksal!

Im Toten Meer zu baden ist ein wahrliches Vergnügen. Das Wasser ist wie Öl, schwer und kräftig. Dennoch kann man schwimmen und planschen - man muss nur Acht geben, nichts runterzuschlucken oder in die Augen zu bekommen. Der Grund des Sees besteht aus schwarzem Schlamm, der heilende Wirkung hat und vielen Arzneien der Schulmedizin überlegen ist. Ich pack mir ein paar Salzbrocken vom Ufer und eine Flasche mit dem salzigen Wasser mit ein. Vielleicht kann ich ja in der heimischen Badewanne dieses Feeling noch einmal erleben. Beim Check-in vor dem Abflug erregt natürlich ebenjene Flasche Aufregung. Diesmal aber konter ich nicht mit Ein-Wort-Sätzen, sondern strahle über das ganze Gesicht und sag, wie schön es am Toten Meer war. Das Wässerchen darf mit nach Deutschland.

Kurz zuvor musste ich feststellen, dass das Gefährlichste an einem Israelaufenthalt nicht eine Katjuscha aus Gaza, sondern die Abflugzeit kurz vor Morgengrauen sein kann. Der Taxifahrer, der uns mitten in der Nacht zum halbstündig entfernten Airport bringt, ist völlig übermüdet und nach einem Sekundenschlaf rammt er den Bordstein. Reifen platt, Karosserieschäden. Und da er kein Englisch kann, Ungewissheit darüber, ob er jetzt tatsächlich den Ersatzreifen anbringen will und uns endgültig bei einer Weiterfahrt in den Tod stürzen wird, oder wir ein Ersatztaxi bekommen. Letzteres geschieht und wir kommen, wie vorgeschrieben, etliche Stunden vor dem Abflug an. Da ich gleich dem Taxifahrer die Nacht nicht schlief, plaudere ich mit meinem Vater halb im Schlaf befindlich selten offen über mein Liebesleben. Es gibt vieles zu offenbaren und wo, wenn nicht in Israel, wann wenn nicht nach einer Woche in diesem Land voller Verletzlichkeiten und Verletzungen, kann man über die wirklich bedeutsamen Dinge mit jemandem reden, der einem wichtig ist?

Wenige Stunden nach unserem Abflug wird der Tempelberg von israelischen Truppen gestürmt und es gibt Straßenschlachten in Jerusalem. Ich erinner mich, dass auf dem Treppengang hinauf zum Tempelberg zig kugelsichere Schutzschilde gestapelt lagen und ich mich fragte, wieso den friedlichen Besuchern hier solch aggressives Zeug gezeigt werden muss. Nun weiß ich, weshalb sie dort bereit lagen.

Tag Sechs

Am sechsten Tag dann fahren wir nach Tel Aviv mit den Zwischenstationen Akkon, Cäsarea und Haifa. Akkon, die Kreuzfahrerstadt beeindruckt durch alte Burganlagen mit erst kürzlich entdeckten Geheimgängen zum Hafen, durch die wir auch vorsichtig hindurchgehen - die Kreuzritter hatten damals eine kleinere Körperstatur. Die alten, imposanten Hallen einer Festung, die ebenso erst vor ein paar Jahren vom Schutt befreit wurden, lassen die Forschung momentan über das christliche Leben an diesem Ort genauso wie unsere Fantasien beim Beschreiten der Gemäuer richtig aufleben. Akkon und die Nachbarstadt Haifa, die wir danach besuchen, sind übrigens die heiligen Städte der Bahai. Die riesigen Gartenanlagen und Schreine dieser aus dem Islam entstandenen neuzeitlichen Religion liegen auf den Hängen Haifas, direkt in bester Lage neben der Altstadt. Da die Bahais zwar aus Persien stammen, jedoch vor allem in Indien beheimatet sind, und sich sehr weit vom Islam entfernt haben, wirkt diese Religion seltsam deplatziert in Israel. So, als hätten die Mormonen ihren höchsten Wallfahrtsort in Berlin-Kreuzberg etwa. Aber hier in Israel, zumal in der sehr multikulturellen Stadt Haifa, passt es sich dann doch ein in die religiöse Vielfalt dieses Landes. Es geht weiter die Küste nach Süden. In Cäsarea erleben wir eine stürmische See, einen kräftigen Wind - ein ganz neues Gefühl. Hier in dieser Stadt, die am historischen Caesarea Maritima mit seinem römischen Amphitheater entstand, leben vor allem wohlhabende Israelis. Es liegt halt weit genug entfernt von den Grenzgebieten und genau richtig zwischen Haifa und Tel Aviv.

Für den Rest der Welt ist nicht Jerusalem die Hauptstadt, sondern Tel Aviv-Jaffa. Das verwundert überhaupt nicht; nicht nur aus politischer Sicht, sondern auch kulturell liegen nunmal zwischen den beiden größten Städten des Landes Welten. Während die heilige Stadt zutiefst religiös geprägt und so gut wie nichts an Industrie und Handel vorhanden ist, geschweige denn etwa Nacht- oder Szeneleben, steppt der Bär im modernen Tel-Aviv. Alle Welt trifft sich in Jerusalem zum Beten, während beim kosmopolitischen Partyvolk und den Fondsmanagern rund um den Globus die 60 Km entfernte Mittelmeermetropole en vogue ist. Und hier also verbringen wir unsere letzten beiden Tage. Das erste, was mir begegnet, ist auch gleich etwas zutiefst Heidnisches: die Wunschbrücke. Man kann sein Sternzeichen am Geländer berühren und sich beim Blick auf das Meer etwas wünschen, was dann in Erfüllung gehen soll. Ich wünsche mir, dass ich noch dieses Jahr erfolgreich meine akademischen Projekte angehen kann und denk dabei an meine Bewerbung beim DFG-Kolleg. Als mir dann noch ein zweiter Wunsch einfällt, merke ich, dass meine Hand schon nicht mehr auf dem Sternzeichen liegt. Karriere also gesichert - neue Liebe aussichtslos.

Tag Fünf

Wir verlassen den Kibbuz, der eine wahrlich bewegte Geschichte von der Gründung durch jüdische Freischärler im osmanischen Reich bis hin zum heutigen kommerziellen Steinbruch- und Hotelbetrieb hinter sich hat. Auf dem Weg zum heutigen Ziel, den See Genezareth, besuchen wir das malerische Quellgebiet des Jordans, sodann einen erloschenen Vulkan auf den Golanhöhen, der lange Zeit als militärische Bastion diente, sowie die - in der Tat deutsch verwaltete - Brotvermehrungskirche an dem Ort, wo Jesus einst Brot und Fisch für tausende Hungernde verteilte. Der Reihe nach. Im Naturreservat Banyas, dessen Name vom griechischen Gott Pan stammt, befindet sich das Quellgebiet des Jordans mit einem ebenjenem Gott gewidmeten antiken Tempel, der an der Stelle einer noch älteren Kultstätte errichtet wurde. Die Gegend ist wirklich traumhaft, mit paradiesischem Grün, Felsen, Bächen, einfach himmlisch. In der Nähe entdecke ich an einem kleinen Verkaufsstand ein T-Shirt mit der Aufschrift "America don't worry, Israel is behind you". Und wie so häufig in diesen Tagen wird mir die Gefahr, die auch über diesem Paradies schwebt, gegenwärtig.

Die Brotvermehrungskirche ist wie alle sakralen Gebäude dieses Landes eine Touristenattraktion. Und auch hier wieder staune ich, wie überall und vor allem auch bei den riesigen Anlagen der Bahai am nächsten Tag, über die gute finanzielle Situation der jeweiligen Hüter der - stets kostenfrei zu besichtigenden - Stätten: Im Bassin des Innenhofs schwimmen ein paar Dutzend große und kleine Koi-Karpfen in allen denkbaren Farbmustern. Ein kleines Vermögen, und gewiss war es kein Wunder, das diese Fischlein vermehrte.


Die ehemalige Militärbastion ist heute eine Art Museum mit vielen Industriedesign-Kunstwerken am Wegesrand und Silhouetten schießender Soldaten direkt auf dem Gipfel des Vulkanberges. Von hier aus konnte man spielend leicht die Dörfer der Umgebung kontrollieren und eben auch beschießen. Einige Schützengräben und Granatwerfergestelle sind noch immer vorhanden - ebenso wie echte Soldaten, die übrigens an bisher allen Mahnmalen und Gedenkstätten anzutreffen waren. Stets in voller Montur mit Maschinenpistole, obwohl sie ganz offensichtlich eine Art Mannschaftsbildungsfahrt unternehmen. Am See Genezareth rauche ich zwei Zigaretten, was ich bislang eigentlich eher vermieden habe. Aber ein anregendes Gespräch verleitete mich.

Tag Vier



Wir verlassen heute Jerusalem, das seit 1967 nicht mehr zur Hälfte jordanisch ist, sondern ungeteilt zu Israel gehört und dessen Hauptstadt ist - freilich international als solche nicht anerkannt. Die alte Teilung in jüdischen Westen und arabischen Osten ist zwar größtenteils noch siedlungsmäßig vorhanden, aber im Gegensatz zu den Autonomiegebieten ist Jerusalem mit seinem Umland tatsächlich ein Gebiet, in dem Juden, Christen und Moslems ohne meterhohe Grenzanlagen zusammenleben. Es ist die Sehnsucht der Palästinenser nach einem eigenen Staat - ohne israelische Bevormundungen -, die es verunmöglicht, dieses Miteinander im ganzen Land zu verwirklichen. Dabei ist der Lebensstandard der Araber diesseits des Jordans weitaus höher als derer in Syrien oder Jordanien.

Unser Reiseführer, der übrigens an so einigen Kriegen seines Landes teilnahm und daher mit Sicherheit etliche Palästinenser bereits umbrachte, hat hier auch eindeutige Ansichten, die trotz aller bemühten Neutralität gegenüber uns Besuchern seines Landes immer wieder durchscheinen: Das Festhalten an religiösen und kulturellen Eigenheiten macht blind gegenüber Perspektiven des Miteinanders und des Fortschritts. Und hierbei schließt er explizit auch die ultraorthodoxen Juden mit ein. Er sieht deutlich, dass es ein enormes Hindernis für Israels soziales Vorankommen ist, wenn es drei große Gruppen gibt, die kaum zum Wohlstand und zum Frieden beitragen können, sondern ausschließlich von Transferleistungen leben. Ebenjene für die reine Religion lebenden und somit nicht arbeitenden Juden zum Einen, die sehr hohe Anzahl und das Bild eines jeden israelischen Ortes prägenden von Wehrdienst Leistenden zum Zweiten, sowie zum Dritten all die Araber, die aufgrund ihrer nicht wirklich und überall vollzogenen Integration und ihrer geringen Bildung wenig zum Gemeinwohl beitragen können. Israels Wohlfahrt wird von sehr wenigen Steuerzahlern geleistet sowie von massiver Unterstützung vor allem amerikanischer Juden und politischen Vereinigungen. Israel, ein Staat mit so wenig eigenen Chancen und doch erlebt man überall eine Emsigkeit, ein Streben und ein Wirken hin zu Neuem und Großen, das Altehrwürdige und Zwischenmenschliche als Fundament all dessen gegenwärtig. Der Wille bewegt hier unendlich viel, nirgendwo spüre ich die Kraft des menschlichen Willens stärker als hier in Israel.

Wir fahren heute zu dem Ort, an dem Jesus getauft wurde. Es ist natürlich eine Touristenattraktion und man kann sogar völlig unkompliziert sich selbst taufen lassen. Wir belassen es jedoch dabei, ein wenig im Jordanwasser zu waten und eine Gruppe von philippinischen Baptisten beim rituellen Eintauchen zu beobachten. Danach geht es weiter nach Nazareth, eine stark von Christen geprägte Stadt. Hier sehen wir auch die historisch verbürgte Arbeitsstätte Jesu Vaters. Allerdings steht just an dieser Stelle ein herrenloser Staubsauger herum. Ich ignoriere ihn und würdige die Stätte so gut es geht. Nach einem kleinen Stadtbummel fahren wir nach Safed, einen der heiligsten Orte der Juden. Er war schwer umkämpft und ist heutzutage rein jüdisch. Hier leben die Einwohner stark traditionell und sind neben der reinen Lehre - teilweise kabbalistisch geprägt - vor allem der Kunst verschrieben. Ihre Malereien, die man hier besichtigen kann, sind in der Tat hoch anspruchsvoll und unbedingt sehenswert. Ein beschauliches, ruhiges kleines Städtchen mit wunderschönen Häusern, in herrlicher Umgebung gelegen. Erst kurz vor Verlassen dieses angenehmen und irgendwie auch intellektuell wirkenden Ortes sehe ich am Stadtrand einige Häuser, die völlig durchlöcherte Außenmauern haben. Hier herrschte jahrzehntelang immer wieder Krieg, bis vor wenigen Jahren, und diese Einschusslöcher machen das Leben hier, das ich kurz zuvor als völlig zeitlos empfand, unsagbar zerbrechlich.

Am Abend erreichen wir den bereits 1916 gegründeten Kibbuz Kfar Giladi, wo wir übernachten. Er liegt direkt an den Golanhöhen, an der libanesischen Grenze. Die Berge im Osten, Norden und Westen gehören zum Libanon, nur nach Süden hin blickt man nach Israel. Und auch hier gibt es immer wieder Raketenangriffe, die niemand absehen kann, die stets unerwartet hereinbrechen können, auch gänzlich ohne offiziellen Kriegsstatus. 2006 etwa starben zwölf Bewohner, denen ein Ehrenfriedhof gewidmet ist. Es bleibt heute ruhig hier, es ist angenehm und das Kibbuz-eigene Hotel hat einen hohen Komfort. Wir schwimmen noch ein paar Runden in einer kleinen Schwimmhalle und lassen uns die Geschichte dieses - so gar nicht mehr dem sozialistischen Geiste entsprechenden - Kibbuz' erzählen.

Tag Drei



Mit dem Schreiben der Blogeinträge komm ich zeitlich gar nicht mehr hin, das Einstellen ins Internet hat bis heute auch nicht geklappt. Jeden Tag sind wir bis spät abends unterwegs und fallen völlig fertig ins Bett; Aufstehen ist zwischen 6 und 7 Uhr frühs. Meine schon vor der Reise bestehende Erkältung wird durch diverse Klimaanlagen in Bus und Hotelzimmer nicht gerade abgemildert, trotz Temperaturen von über 30 Grad, die in der Mittagssonne noch weit drüber liegen. Und heute steht auf dem Programm: eine Stunde Wartezeit ohne Schatten oder kühlendes Lüftchen, um die Al-Aqsa-Moschee und den Felsendom besuchen zu können. Die Palästinenser, die diesen südöstlichen Teil der Jerusalemer Altstadt - den Tempelberg als drittheiligste Stätte des Islam - kontrollieren, gewähren nämlich nur wenige Stunden pro Tag Einlass. Aber durch die strenge Besucherregulierung ist es hier angenehm beschaulich und man kann den wirklich schönen Felsendom herrlich genießen.

Nach einem kurzen Ausflug zum Ölberg mit dortigen christlichen heiligen Stätten und einem wunderbaren Blick über die Jerusalemer Altstadt sowie einem Besuch im größten Museum Israels fahren wir nach Yad Vashem. Eigentlich braucht man etwa vier Stunden, um die ganze Holocaust-Gedenkstätte mit allen Ausstellungen gesehen zu haben. So viel Zeit haben wir leider nicht mehr bis zur Schließung um 16:30 Uhr. Ich nehme mir also vor, alles, was ich schaffe, sehr genau wahrzunehmen und alle begleitenden Audio-Guide-Beiträge vollständig zu hören - eben bis die Zeit vorüber ist. Lieber Weniges intensiv als Alles nur oberflächlich. Es ist ein Museum über den Holocaust - als solches würde ich mir natürlich wünschen, dass es vergleichbares auch in Deutschland gäbe - und daher ist es verständlich, dass der Fokus auf der nationalsozialistischen Judenvernichtung liegt. Nur manchmal vermisste ich einen etwas weiteren Rahmen, etwas mehr Grundlagen über die Geschichte der Pogrome und der schwierigen Beziehungen zwischen Juden und ihren Mitmenschen weltweit. Nicht, um die Einmaligkeit des Holocaust relativiert zu wissen, das Gewiss nicht, sondern um eben das dort Veranschaulichte einordnen zu können, um das Einmalige wirklich als solches zu verstehen.

Soweit zum Rationalen. Yad Vashem ist eine hervorragend gemachte Ausstellung, mit Liebe zum Detail und mit wertvollen Zeitdokumenten, die nahe gehen, richtig nahe gehen. Sehr viele Aspekte des Holocausts werden eingehend dargestellt und die vielen Eindrücke, anhand von Bildern, Gegenständen, Texten, Videos, Tönen, gehen unter die Haut. Etliches Neues erfährt man und bekommt ein Gespür für die schiere Größe dieses Massenmordes. Allein die Anzahl der ermordeten jüdischen Kinder ist nicht begreifbar ehe man beispielsweise im hierfür eigens errichteten Mahnmal mittels gelungener Visualierungen spürt, was diese reine Zahl eigentlich bedeutet. Anderes ist durch seine Wirklichkeit so nahegehend; man sieht eben echte Filmaufnahmen des Warschauer Ghettos, echte Gegenstände aus den Lagern, echte Kontrollberichte eines Aufsehers und echte Zyklon-B-Behälter. Bei vielen solcher Themen mit ihrer ganzen Wucht der Offenlegung des Geschehenen fühl ich mich jedoch schrecklich allein. Bei einigen Ausstellungsstücken möchte ich einfach nur die Hand von Jemandem halten. Jemand, von dem ich weiß, dass er grad dasselbe fühlt und dem ich die Hand noch fester drücke, um zu sagen "Ich fühle! und will nicht ohne Mitgefühl leben".

Am Abend gehen wir noch einmal zur Klagemauer, so wie am ersten Tag. Nur abends kann man hier wirklich den Zauber dieses Ortes erleben. Unbeschreiblich schön und besinnlich. Alte und junge Männer lesen, beten, unterhalten sich leise; ihre Kinder spielen selbstvergessen zwischen den Bücherschränken neben der Mauer; einige Talmudschüler lauschen ihrem Lehrer. Die Touristen sind mit ihren Bussen bereits abgereist und die einbrechende Nacht gibt jedem Augenblick, jedem Gedanken etwas geborgenes und man fühlt sich heimisch, ganz als ob man schon immer Jerusalemer wäre. Auf dem Rückweg wandern wir auch nochmals durch die Altstadt und genießen auch hier die Abendstunden in den kleinen Gassen mit den gerade schließenden Läden und noch geöffneten kleinen Cafés. Schön ist es, hier zu sein.




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